26/04/15 WISSEN UND WISSEN



Es gibt viele Dinge, die man einfach weiß. Vielleicht, weil man sie schon früh von den Eltern erklärt bekommen oder in der Schule gelernt hat, oder, weil man sie sich nach allem, was man eben so aufschnappt, als kleines Kind oder Jugendlicher, selbst zusammenreimen konnte. Sie sind immer da in unseren Köpfen, diese simplen Tatsachen über das Leben, stets abrufbar, ohne dass wir pausenlos über sie nachzudenken bräuchten.
Und dann kommt so ein Moment. So ein Augenblick, in dem uns jene eigentlich ja schon bekannten Tatsachen am eigenen Leib bewusst werden. In dem das Wissen nicht mehr aus einer ungerührten Überlegung, einem fahlen Gedanken herrührt, sondern aus einer Begegnung, einem Erlebnis. Was uns vorher zwar bewusst war, aber eben nur auf nüchterne, trockene Weise, wird plötzlich spürbar; es schwirrt nicht mehr bloß abrufbar durch unseren Hinterkopf, sondern entwickelt eine viel durchdringendere Präsenz, die uns nicht mehr loslässt. Und so war es bei der Begegnung mit dieser Frau.
Man weiß einfach, dass es Menschen gibt, die ein Leben führen, das sich in seiner Erscheinung komplett vom eigenen unterscheidet. Deren Kindheit, Lebensweg und Alltag sich völlig anders gestalten, als bei einem selbst. Doch dieses Wissen war mir noch nie so bewusst gewesen, wie in dem Moment, als die Frau auf der Fotografie in einem Tempel Angkors meine Hand nahm, mit geschlossenen Augen ein paar beschwörende Worte über ihre durchfurchten Lippen purzeln ließ und mir ein Segensbändchen ums Handgelenk knotete, während sie im Schneidersitz auf dem Boden hockte. Sie war mir irgendwie so fremd, so ungreifbar, unerreichbar. Normalerweise kann ich bei jeder Begegnung einen Zugang finden zu meinem Gegenüber - doch bei ihr? Was verbarg sich hinter ihren überschatteten Augen? Welche Gedanken und Gefühle? Wie war sie wohl als Kind gewesen? Ob sie viel gelacht hatte? Was hatte sie an genau diesen Ort verschlagen? Und wie sah ich wohl aus für sie, von oben auf sie niederblickend? Natürlich kann man solche Fragen nie genau beantworten, immerhin schauen wir nicht in die Köpfe unserer Mitmenschen. Doch man kann ahnen und vermuten. Bei ihr hingegen gelang es mir nicht, als würde sie sich tief in ihrem Inneren, hinter ihrem Gesicht verbergen und all diese Fragen erschienen mir grundsätzlich und absolut unmöglich, zu beantworten.
Und dadurch, durch diese absonderliche Begegnung, wurde mir das, was ich zwar bereits gewusst, aber eben nie so eindringlich empfunden hatte, auf eine ganz neue Weise klar - diese Tatsache, dass so grundverschiedene Leben zeitgleich nebeneinander existieren auf ein und dem selben Erdball - in ihrer ganzen Absurdität und Natürlichkeit.
Und das ist das Besondere am Reisen für mich: Dass man über Erfahrungen Dinge verinnerlicht, dass man lernt, weil einen etwas berührt oder durchfährt und aufweckt. Und, dass einen all diese Dinge weiterhin begleiten, viel präsenter und stärker als bloßes, nacktes Wissen.

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