12/04/15 WARUM KAMBODSCHA?

Ich weiß nicht, warum ich mit Kambodscha beginne, denn eigentlich war es die letzte Station meiner Reise: Eine abschließende Woche in Siem Reap nach sieben Wochen Thailand, in denen ich gemeinsam mit einer Freundin das Land von Norden bis Süden abgegrast hatte.
Vielleicht Kambodscha, weil es am kürzesten zurückliegt und die Erinnerungen noch so frisch und präsent sind - obwohl das eigentlich bei jedem beliebigen Rückblick auf die gesamte Reise in gleichem Maße der Fall ist; sei es der auf eine Bootsfahrt durch die Gewässer des Khao Sok Nationalparks, heute 58 Tage her, oder auf Angkor Wats kühle Kreuzgänge vor nur 16 Tagen: Alles erscheint gleich nah und gleich fern, gleich lebendig und auf gleiche Weise immer noch so greifbar, so gegenwärtig.
Vielleicht auch Kambodscha, weil es so anders war nach Thailand und es mir möglicherweise gerade durch den Vergleich so positiv und angenehm im Gedächtnis geblieben ist.
Spreche ich von Kambodscha, spreche ich eigentlich nur von Siem Reap und seiner Umgebung. Ich kann nicht sagen, ob meine Eindrücke dem Charakter eines kompletten Landes entsprechen (vermutlich nicht) oder nur einen ganz eigenen, gesonderten Ausschnitt abdecken, der wie ein Puzzleteil in ein Gesamtbild gehört. Aber das Kambodscha, das ich in Siem Reap kennenlernen durfte, hat mich so verzaubert durch seine natürliche und unverstellte Art. 
Tatsächlich, was mir von der Ankunft an auffiel, war diese Stimmung oder vielmehr Aura, die wie in der Luft zu hängen schien und die ich anfangs überhaupt nicht benennen oder einordnen konnte; alles, die Stadt mitsamt ihrer Bewohner und Besucher, ihrer abgeblätterten Mauern, staubigen Straßen und nach Feierabendverkehr klingenden Geräuschen schien... irgendwie so im Einklang mit sich selbst zu sein. Mit der Zeit, ein paar Tuktukfahrten und Ausflüge später, begriff ich dann, dass das, was ich erst nicht hatte genau erfassen oder beschreiben können, eben diese ganz eigentümliche Natürlichkeit und Unverstelltheit war, die sich wie ein roter Faden unbeirrt durch Siem Reaps Straßen zieht und jede Brücke, jeden Baum, jeden zufälligen Blick eines Kambodschaners in dieselben Farben taucht. 
So direkt ist es mir zum Beispiel bei den jungen Kambodschanerinnen aufgefallen. Denen, die sich morgens zu zweit mit wehenden Haaren und Schuluniform auf einem Mofa durch den sprudelnden Verkehr schlängeln. Oder bei denen, die nachmittags an einem Marktstand mit den Verkäuferinnen plaudern, prall gefüllte Einkaufstüten aus Plastik am Handgelenk, die ihnen im Takt ihrer Unterhaltung um die Beine wippen. Oder denen, die abends im Lokal ihrer Familie mithelfen und dabei beflissen zwischen den Tischen umherwirbeln, eine abgeklärte und entspannte Miene im Gesicht. Sie wirkten alle beeindruckend souverän und selbstsicher - nicht so quiekig und aufgedreht, bemüht, sich zu perfektionieren und zu wirken. Anstatt dessen völlig authentisch und natürlich, auf lässige Art bodenständig, fast so, als wären sie zu cool, um gefallen zu wollen. Als wären sie all denen, die sich um Schminke und Beautytipps, die neuste TV-Soap oder den gesündesten Ernährungstrend scheren, einen Schritt voraus und würden sich um Wichtigeres, Elementareres kümmern. 
Und so verhielt es sich mit ganz Kambodscha. Alles war so ungeziert und unverfälscht, geradeheraus, ohne den Drang, etwas verbergen oder schönen zu wollen. Einfach ehrlich und unbefangen. Simpel und unverdorben. Diese unverdrossene, souveräne Schlichtheit und vor allem die allgemeine Eintracht damit erschien mir unheimlich fortschrittlich und modern. Sie hatte fast etwas Einschüchterndes.
Erst später, mit dem Lesen eines Buches, das die Lebensgeschichten vierer Kambodschaner erzählt und damit auch die ihres Heimatlandes, kam mir in den Sinn, dass diese vermeintliche Modernität und Befähigung, über den irrelevanten Dingen zu stehen wahrscheinlich weniger auf ein progressives, ausgefallenes Denken zurückzuführen ist, als vielmehr darauf, dass all die Ablenkungen, der triviale Firlefanz, der unseren Alltag hier im Westen so prägt, noch überhaupt nicht erst angekommen sind.
Bis vor nur knapp 20 Jahren wurde Kambodscha immer wieder aufgewühlt durch Unruhen, die wie Nachbeben der Schreckensherrschaft der Roten Khmer (1975-1979) durch das Land grollten. Die Rote Khmer, eine Guerillabewegung, die aus der Kommunistischen Partei Kambodschas hervorgegangen war, hatte 1975 das ohnehin von Bürgerkriegen zerfurchte Land erobert und eine radikale Umstülpung sämtlicher bestehender Strukturen vorgenommen: Mit dem Ziel eines Agrarkommunismus waren Großstädte entvölkert, die Bevölkerung enteignet und Intellektuelle, Mönche und Widerständler in Vernichtungslagern systematisch ermordet worden; tausende Menschen starben damals an den Folgen von Unterernährung, der zehrenden Arbeit und an Krankheiten. Auch wenn das Regime nach vier Jahren gestürzt wurde, litten sowohl Wirtschaft als auch Gesellschaft noch Jahrzehnte, vermutlich sogar bis heute, unter den Schäden dieser Phase; die Rote Khmer wurde erst 1998 endgültig zerschlagen - im selben Jahr fanden die ersten erfolgreichen freien Wahlen nach mehr als 20 Jahren statt, also als ich bereits laufen und sprechen gelernt hatte. Dem Tourismus und somit in gewisser Weise auch fremden, neuen Einflüssen wirklich geöffnet hat sich das Land ebenfalls erst zu dieser Zeit. 
Kambodscha liegt in seiner Entwicklung noch um Einiges zurück und ich nahm das als Fortschritt wahr. Mag verrückt klingen, aber zeigt es nicht auch, dass letztlich nicht jeder Fortschritt ein Schritt in die richtige Richtung ist? Es steht außer Frage, dass viele Entwicklungen notwendig waren und sind - alleine schon, um - im Falle Kambodschas - der Bevölkerung ihre Rechte als Bürger und Menschen gewährleisten zu können. Es kommen aber auch immer, und das immer mehr, Entwicklungen in unser aller Leben geschwappt, bei denen zweifelhaft ist, ob man sie überhaupt benötigt, die nur scheinbar unseren Alltag um ein Weiteres bereichern sollen - während sie uns in Wahrheit doch bloß weiter wegtreiben vom Eigentlichen, uns ablenken, uns vergessen lassen, was uns wirklich etwas geben kann. 
In Kambodscha herrschte noch so eine Einfachheit, die nicht beschämte, sondern natürlich war. Es fühlte sich so oft so zufrieden und mühelos an - als würde das Land mit den Schultern zucken und sagen "Na und? Es ist wie es ist. Und das ist in Ordnung." Vielleicht darum Kambodscha.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen